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Als Fischer ins Zimmer zurücktrat, drehte Elisabeth ihr Ge- sicht von der Wand und fragte leise: »Wer war da?«
»Ein Bettler«, sagte er und setzte sich wieder.
»Hast du ihm etwas gegeben?«
»Nein«, sagte er.
Sie seufzte und drehte ihr Gesicht wieder zur Wand. Die Vor- hänge waren zurückgezogen und in den großen dunklen Fenster- rahmen stand das phantastische Bild der Trümmer: rauchge- schwärzte Häuserflanken, geborstene Giebel, die zu stürzen schienen – grünüberwucherte Haufen, die ein zweites Mal aus- gewühlt waren, nur an manchen Stellen war das Grün moosig und friedlich…
»Du hast ihm nichts gegeben – wer war es?«
»Ich weiß nicht«, sagte er, »irgendeiner…«
Sie fing leise an zu weinen, und er horchte auf: bisher hatte sie noch nicht geweint: er sah ihren schmalen Nacken mit dem un- gekämmten Haar, die zitternden Schultern, und hörte dieses merkwürdig brüchige Geräusch ihres Schluchzens. Er war er- staunt und irgendwie berührte es ihn ekelhaft, daß sie die Senti- mentalität so weit trieb.
»Du mußt nicht böse sein«, sagte er, »aber ich möchte zu ei- nem Schluß kommen, zu irgendeinem, du verstehst. Es ist mir persönlich wirklich gleichgültig, obwohl ich Geld für eine zu
ernste Sache halte, als daß man sentimental darüber werden
sollte. Wie gesagt: unser gemeinsamer Schwiegervater wäre zufrieden, wenn du die mündliche Versicherung abgibst, daß du Willis Testament vorläufig als nicht bestehend betrachtest, und aufhörst, über Willis Geld und Sachwerte zu verfügen. Münd- lich, verstehst du, mehr Entgegenkommen kannst du nicht ver- langen – im anderen Falle« – er unterbrach, weil sie plötzlich ihr Gesicht wieder ihm zuwandte, und er wunderte sich über den
Ausdruck von Festigkeit – »käme es eben auf ein juristisches
Duell an, und« – er lachte – »ich halte es für sehr unwahrschein-
lich, daß du mit den bestehenden Unterlagen da siegen wür- dest…«
»Ich könnte versuchen, den Mann zu finden, der mir Willis Testament gebracht hat.« Sie wurde rot in der Erinnerung an den
Auftritt, den sie mit ihm gehabt hatte.
»Gewiß«, sagte er, »aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß du ihn finden wirst, und außerdem: was willst du von ihm erfah- ren?«
»Den Ort, wo Willi erschossen wurde. Wahrscheinlich ist er doch dort begraben. Irgend jemand wird ihn schon begraben haben.«
»Nicht übel«, sagte er, »gar nicht übel.« Er schwieg einen Au- genblick nachdenklich und fragte dann: »Also bitte, sag mir: Willst du vorläufig den Unsinn mit der Schenkerei sein lassen, dich mit 2000 Mark monatlich zufrieden geben und…«
»Also eine Art Waffenstillstand – meinetwegen, übrigens«, sagte sie leise, »wenn ich tun könnte, was ich wollte, würde ich dich jetzt ins Gesicht schlagen…«
»Es wäre nicht sehr christlich…«
»Ich weiß«, sagte sie, und sie spürte, wie die Tränen plötzlich von einem inneren Feuer getrocknet wurden – »das heißt, ich
weiß nicht, ich glaube, daß eine ganze Menge guter Christen
eine ganze Menge von Leuten deiner Art ins Gesicht geschlagen haben, und daß es nicht unchristlich war – aber die Sache hat einen Haken: ich bin kein guter Christ und sie waren es…«
»Ganz recht«, sagte er, »du hast humane Anwandlungen, das ist es, und humane Anwandlungen ersetzen nicht die spontanen Leidenschaften einer Religion…«
»Jaja«, sagte sie und sah ihn merkwürdig an, fast spöttisch,
»du kannst alles erklären, alles könnt ihr erklären, aber ich hoffe, daß es eine Zeit geben wird, wo auch ihr erklärt werdet…«
»Schön gesagt, aber ich hoffe, daß ich auch eine Chance habe, als guter Christ zu gelten, Gott sei Dank gibt es da andere Auto-
ritäten als dich« – er lachte leise – .
Sie drehte sich wieder zur Wand. »Ich werde ihn doch ins Ge-
sicht schlagen«, dachte sie…
»Warum übrigens«, fragte er und suchte eine Zigarre aus sei- ner Tasche, »warum übrigens möchtest du mich gerne schla- gen?«
Sie schwieg; er zündete umständlich seine Zigarre an und suchte irgendeine Stelle, auf die er mit den Fingern trommeln konnte, aber der Nachttisch war zu klein, er war vollgestellt mit dem Kruzifix, einem Glas Wasser und einem Teller, auf dem Brotkrümel lagen. Er trommelte gegen die Stuhllehne, aber die Fläche war zu klein, seine Finger rutschten ab, und er spürte, daß er errötete, es machte ihn nervös, wenn er keine Stelle hatte, um mit den Fingern zu trommeln…
»Warum?« fragte er.
»Weil du dem Bettler nichts gegeben hast, aber laß nur«, sagte sie müde, »ich habe ja Waffenstillstand mit euch geschlossen…«
»Du würdest wohl nicht«, sagte er leise, »uns das Testament so lange geben… ich meine…«
Sie drehte sich plötzlich um, sehr heftig, und er erschrak, als
sie lachte. »Nein«, sagte sie, »da es ja ein völlig wertloses Do- kument ist, würde es euch auch nichts nützen…«
»Nun, man könnte es prüfen lassen, es ist doch beglaubigt…«
»Ja«, sagte sie.
»Du kannst gehen«, sagte sie, »ich bin sehr müde: meine Krankheit wird nicht besser, und ich habe die Nacht nicht ge- schlafen.«
Er steckte seine Zigarre in den Mund und zog sich den Mantel
an.
»Wie geht es übrigens meinem Patenkind Elisabeth?« fragte sie.
Der Tonfall ihrer Stimme veranlaßte ihn, mitten in der Bewe- gung innezuhalten, so blieb sein Mantel halb über der Schulter
hängen, er nahm die Zigarre aus dem Mund, legte sie auf die
Nachttischkante und trat näher ans Bett.
»Wieso«, fragte er möglichst ruhig, »weißt du, daß sie krank ist?«
»Ist sie krank?«
»Ja.«
»Was hat sie denn?«
»Sie hat einen bösen Unfall gehabt, mit dem Rad – eine schwere innere Blutung…«
»Eine schwere innere Blutung, so? Das hat man nicht gern in ihrem Zustand.«
»Wie«, fragte er leise, »in ihrem Zustand? Was soll das hei- ßen?«
Er verlor nur manchmal die Beherrschung und auch das selten
bei Unterredungen mit einer Frau, aber jetzt spürte er, daß sein Gesicht zitterte, seine Hände alle Kraft verloren und naß waren von Schweiß.
»Es soll heißen, daß sie in Hoffnung ist, war«, sagte sie ruhig. Er zog seinen Mantel hastig über, nahm die Zigarre von der
Nachttischkante und sagte: »Ich glaube wirklich, daß du verrückt bist, wirklich… glaubst du denn…?«
Er machte eine ungeduldige Bewegung, denn sie weinte schon wieder, und er haßte diese haltlosen Äußerungen innerer Bewe-
gung.
»Natürlich«, sagte sie leise, »ich glaube es, ich glaube alles von einem Mann, der einen Bettler von der Tür weist… geh jetzt.«
Er ging mit schnellen Schritten hinaus.